Jüdische Literatur

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Kennen Sie jüdische, hier eigentlich jiddische, Literatur? Mir persönlich war sie überhaupt kein Begriff. Und genau deshalb war ich zu unserer letzten Veranstaltung in der Reihe „Gegen Antisemitismus - für Menschlichkeit“ gekommen.

Am vergangenen Freitag hatten wir einen vollbesetzten großen Saal mit ebenfalls sehr interessierten Hörern, die Dr. Stefan Mühlhofer, den Direktor des Stadtarchivs und Leitenden Direktor der Kulturbetriebe Dortmund, und Ekkehard Freye, den bekannten Schauspieler am Dortmunder Theater, mit einer Präsentation von ausgewählten Texten jüdischer Literatur erleben wollten.




Zunächst führte Dr. Mühlhofer kurz in die Auswahl der Schriftsteller und ihrer Texte ein. Zum Vortrag sollten vier Texte von verschiedenen osteuropäischen Autoren kommen, die zu den Begründern der neujiddischen Literatur gehören und die im wesentlichen auf Jiddisch geschrieben haben: Scholem Jankew Abramowitsch, Isaak Leib Perez, Scholem Aleichem und Moische Kulbak. Die drei ersten lebten und schrieben hauptsächlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zu den Zeiten des Ersten Weltkriegs, der vierte und jüngste im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.

Abramowitsch (1835-1917) kam aus der Gegend von Minsk und lebte die längste Zeit seines Lebens in Odessa. Auf Reisen lernte er das jüdische Leben kennen, lernte Deutsch und Russisch und wurde Lehrer. Er schrieb auf Jiddisch und Hebräisch humorvolle, realistische Erzählungen, die häufig mit Zutaten aus der Bibel zu aktuellen Themen überraschen.

Und genau so eine Erzählung, mit dem Titel „Wie Benjamin sich zu Senderl der Frau gesellt“, las Ekkehard Freye vor. Man musste schon schmunzeln über diesen Einblick in eine für uns ganz unbekannte Welt, die Freye uns Zuhörern mit viel Ausdruck und jiddischen und hebräischen Einsprengseln nahebrachte. Eine Welt der einfachen, strenggläubigen Juden der osteuropäischen Schtetl, wo die Männer sich viel um das geistige Wohl, nicht aber um das tägliche Auskommen kümmerten, und die Frauen zwar wenig Ansehen hatten, aber sie allein für das reale Leben zuständig waren.

Isaak L. Perez (1852-1915) hingegen kam aus Polen und gilt als der bedeutendste jiddische Dramatiker und großer Erzähler von realistischen Novellen. Er schrieb oft über die Lebensprobleme der chassidischen jüdischen Unterschicht.

So auch in „Kabbalisten“ aus „Leben sollst du“. Ekkehard Freye las diese berührende Geschichte mit viel Feingefühl und Anteilnahme vor, in der es im Kern um den Hungertod und die mit diesem Sterben verbundenen Visionen eines jungen Mystikers ging. Ganz still und tief beeindruckt von dieser völlig fremden Welt folgten die Zuhörer dem Lesevortrag.

Den Titel „Tewje, der Milchmann“ haben viele von uns sicher schon mal gehört. Vielleicht hat auch der ein oder andere den Film oder das Musical „Anatevka“ nach Scholem Aleichem (1859 in Kiew - 1916 in New York) gesehen. Der Text, den Freye ausgesucht hatte, zeigt den Vater von sieben Töchtern, der feststellen muss, dass eine der Töchter sich in einen christlichen jungen Mann verliebt hat und diesen zu heiraten gedenkt. Mit viel Witz und Humor, der jüdische Humor ist nicht umsonst berühmt, schildert Aleichem die Gefühle und Gedanken des Vaters, und die Vortragskunst von Freye bringt uns diese auf köstliche Weise nahe.

Moische Kulbak, der vierte Autor heute, kommt aus Litauen, wo er in Wilna 1896 geboren wurde. In den zwanziger Jahren ging er aus politischer Überzeugung in die Sowjetunion nach Minsk. Dort wurde er im Zuge der „Stalinistischen Säuberungen“ 1937 nach einem Schauprozess erschossen. Neben Gedichten und Dramen im Stil des Expressionismus und Realismus schrieb er unter anderem die Familiengeschichte der „Selmenianer“, aus der uns Ekkehard Freye einen Auszug vortrug. In ausdrucksstarker Sprache schilderte er dort die Charaktere und Begebenheiten.

Knapp zwei Stunden hat die Veranstaltung gedauert. Ich kann für mich sicher, und vielleicht auch für viele Zuhörer sagen, dass ich gerne noch länger dem wunderbar intensiven Vortag von Ekkehard Freye gelauscht hätte, um auch noch mehr aus diesen vergangenen Zeiten und Welten zu erfahren, die nicht immer schön, besonders auch für die Frauen nicht einfach, sicher aber reich an Lebensformen und kulturellen Inhalten waren und die zumindest in Europa auf immer verloren sind.

Zum Abschluss dankte Frau Schellbach sehr herzlich den beiden Referenten, Dr. Stefan Mühlhofer und Ekkehard Freye für die beeindruckende Präsentation und das Erlebnis dieses Nachmittags.